„Linke Szene“ oder Arbeiterbewegung?

Der 1. Mai ist der internationale Kampftag der Arbeiterklasse. Deutschlandweit finden an diesem Datum die traditionellen Demonstrationen des DGB statt, die dieses und letztes Jahr mit dem Verweis auf die Pandemie in Teilen abgesagt wurden.

Bei diesen Demonstrationen finden sich Parteien und politische Organisationen, aber vor allem gewerkschaftliche Kräfte zusammen. Die Gestaltung der Veranstaltung variiert je nach Ort und derzeitigem Kurs der Gewerkschaften, meistens bewegt sie sich jedoch in demselben Rahmen wie die Gewerkschaftspolitik allgemein und spiegelt diese wieder. Aktive aus Betrieben und Gewerkschaftsgruppen tragen ihren Kampf an diesem Tag auf die Straße – doch auch der sozialpartnerschaftliche und unkämpferische Charakter der Gewerkschaften tritt häufig zutage und die Veranstaltungen bekommen Routine- und Festtagscharakter. In vielen Städten bemühen sich kämpferische Kräfte, diese Demonstrationen mitzugestalten und einen starken politischen Kampf auf die Straße zu tragen.

Der „revolutionäre“ 1. Mai

Zusätzlich zu diesen Terminen gibt es jedoch in vielen Städten auch andere Veranstaltungen zum 1. Mai. Unter dem Titel „Revolutionäre 1. Mai Demonstration“ versammeln in vielen deutschen Städten, dieses Jahr beispielsweise in Duisburg, Frankfurt, Nürnberg, Hamburg und Berlin, verschiedenste linksradikale Gruppen, um dem sozial-versöhnlichen Gewerkschaftskurs etwas entgegen zu stellen. Die Träger dieser Demonstrationen sind häufig Gruppen mit revolutionärem Selbstverständnis, für die es am ehesten einem Kampftag entspricht, wenn man vermummt, möglichst militant und unbeeindruckt von polizeilichen Auflagen durch die Stadt marschiert. Hierbei werden auch gerne kleinere Intermezzos mit der Polizei in Kauf genommen, hinter denen selten mehr als der bloße Adrenalinkick steht. Das Veranstalten dieser Demonstrationen rührt oftmals auch daher, dass diese Gruppen in den DGB-Veranstaltungen keine Möglichkeit sehen, ihren revolutionären Anspruch umzusetzen oder durch ihr radikales und offen-revolutionäres Auftreten von der Zusammenarbeit mit Gewerkschaften ausgeschlossen werden. Somit finden in vielen Orten zwei gänzlich unterschiedliche Veranstaltungen ohne Bezug aufeinander statt. Die „revolutionären“ Demonstrationen unterscheiden sich zwar inhaltlich meist von Aktionen autonomer und anarchistischer Gruppen, das Außenbild bleibt jedoch häufig dasselbe. Bürgerliche Medien tun ihr übriges, indem sie die häufigen Ausschreitungen an diesen Tagen aufgreifen und unter diesem Motto den Kampftag der Arbeiterklasse im Allgemeinen kriminalisieren. So entsteht in der Gesellschaft ein Bild des 1. Mais, das nichts mehr mit seinem eigentlichen Anliegen und Zweck gemein hat und welches das, für den sozialistischen Kampf unabdingbare, subjektive Element völlig ausklammert. Denn die werktätigen Massen reihen sich nicht in sogenannte „revolutionäre Demonstrationen“ ein. Sie bleiben infolge dieser Bilder und vergrault vom opportunistischen Verrat der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie lieber zuhause.

Der „revolutionäre“ 1. Mai wird maßgeblich von der linken Szene in der jeweiligen Stadt getragen und begangen. Vor allem junge Menschen aus dem szenepolitischen Spektrum schließen sich diesen Protesten an. In den Aufrufen wird die Wut auf die Zustände und das Bedürfnis, mit diesem System zu brechen, deutlich und mit revolutionärer Rhetorik untermauert. Die Wut auf das herrschende System, die sich auf solchen Demonstrationen entlädt, ist nachzuvollziehen, wenn man die Gewalt der herrschenden Klasse bedenkt, die wir jeden Tag unseres Lebens zu spüren bekommen. Wird Wut allerdings zum alleinigen, tragenden Faktor einer Bewegung, mündet das in blindem Radikalismus. Es liegt hierbei nahe, Parallelen von diesen Protesten zu denen der frühindustriellen Maschinenstürmer zu ziehen. Damals zerstörten Arbeiter die greifbaren Elemente dessen, was sie in völlig andere Lebens- und Arbeitsverhältnisse zwang, ein neues Maß an Ausbeutung etablierte und für ihre massenhafte Verelendung verantwortlich war – die Maschinen. Die Ursachen hinter diesen Verhältnissen zu begreifen, war ihnen in diesem frühen Stadium des Kapitalismus nicht möglich, der systematische Kampf gegen das kapitalistische System noch nicht theoretisch begründet. Genau diese intuitive Wut ist es, die auch auf den heutigen, militanten Protesten am 1. Mai aufkommt, sei es gegen Polizei und Staatsgewalt oder Gegenstände.

Wessen Kampftag?

Das was uns jedoch heute von den Maschinenstürmern unterscheidet ist eine jahrhundertelange Geschichte, auf die wir als Kommunisten zurückgreifen können. Erfahrungen der Arbeiterbewegung, theoretische Erkenntnisse und eine klare Analyse der heutigen Verhältnisse weisen uns den Weg für einen Kampf gegen dieses System im Hier und Jetzt. Aus diesem Grund muss auch der für jeden Kommunisten wichtigste Tag des Jahres mit einer solchen Analyse vor Augen begangen werden. Auch wir Kommunisten fühlen diese Wut auf das System. Die Ohnmacht gegenüber ökonomischen Zwängen und staatlicher Repression und der aufreibende Kampf seit zweihundert Jahren produzieren eine unerschöpfliche Menge dieser Wut. Nur muss sie für uns den Startschuss geben, uns konsequent der marxistischen Theorie zu befähigen, sie zu studieren, zu überprüfen, zu verbreiten und anzuwenden. Doch dabei eben nicht den Fehler zu begehen, den zentralen Gegenstand dieser Theorie – die Arbeiterklasse – hinter uns zu lassen und vorweg zu preschen.

Nun kann eine revolutionäre 1. Mai-Demonstration Teil einer Strategie sein, der eine genaue Analyse der Verhältnisse zugrunde liegt. Doch die derzeitigen Veranstaltungen unter dieser Flagge sind Ausdruck genau des Gegenteils. Die Analyse der Arbeiterklasse als revolutionäres Subjekt muss Anlass dafür sein, den Kampf dort zu führen, wo sie ihn führt. Wer seinen Kampf als den der Arbeiterklasse begreift oder ihn untrennbar damit verknüpft sieht, der muss auch den Anspruch haben, in dieser Klasse zu arbeiten, von ihr zu lernen und sich der täglichen Konfrontation mit den gesellschaftlichen Zuständen auszusetzen. Es ist naheliegend, dass der Kampf in den Gewerkschaften vielen revolutionär Gesinnten absurd vorkommt. Zu groß scheint die Repression, die wir in den Gewerkschaftsapparaten erleben, wenn wir für die Interessen unserer Klasse kämpfen. Zu gering scheint das Klassenbewusstsein in der heutigen Gesellschaft. Die „revolutionären“ 1. Mai-Demos stellen einen Rückzug und ein Einknicken vor den Aufgaben einer revolutionären, marxistischen Bewegung dar. Sie treten als Alternative zu den DGB-Veranstaltungen auf, während dieser mit 6 Millionen Mitgliedern die größte Massenorganisation der Arbeiterklasse in unserem Land darstellt. Ähnliche Analysen kennen wir auch aus der Geschichte, aus verschiedenen Zeiten, in denen revolutionäre Gruppen und Parteien die Arbeit in den Gewerkschaften und Massenorganisationen verwarfen und eine direkte Opposition eingingen. Der unweigerliche Nebeneffekt hierbei ist, dass man den Draht zu den Menschen innerhalb dieser Organisationen verliert. Es gibt keinen Grund, Lenins Analyse zu verwerfen: „Nicht in den reaktionären Gewerkschaften arbeiten heißt die ungenügend entwickelten oder rückständigen Arbeitermassen dem Einfluss der reaktionären Führer, der Agenten der Bourgeoisie, der Arbeiteraristokraten oder der „verbürgerten Arbeiter“ überlassen.“

Also was tun?

Der „revolutionäre“ 1. Mai bleibt Ausdruck des Impulses, sich von dem Großteil der Klasse und der Masse loszusagen und seine Forderung nach einer Revolution, ungeachtet der jeweiligen Zustände, auf die Straße zu tragen. In den derzeitigen Verhältnissen ist das jedoch nichts anderes, als ein szenepolitischer, linksradikaler Alleingang – ein Wunschdenken. Doch eine revolutionäre Bewegung, dessen Träger nur die Arbeiterklasse als solche sein kann, kann man sich nicht herbeizaubern, indem man „revolutionär“ auf seine Banner schreibt und eine Runde durch den Szenekiez dreht. Wer sich als Revolutionär versteht, der ist „(…) verpflichtet, den tatsächlichen Bewusstseins- und Reifegrad eben der ganzen Klasse (und nicht nur ihrer kommunistischen Avantgarde), eben der ganzen werktätigen Masse (und nicht nur ihrer fortgeschrittenen Vertreter) nüchtern zu prüfen.“ (Lenin). Und wer sich „Avantgarde der Arbeiterklasse“ nennen möchte, der darf sich nicht zu schade zu sein, innerhalb der Klasse und ihrer Massenorganisationen zu arbeiten. Die Verankerung in der Klasse zu stärken muss bedeuten, an allen Tagen im Jahr die Arbeit in den Betrieben und Vierteln zu stärken und „(…)sich nicht durch ausgeklügelte, kindische „linke“ Losungen von ihnen abzusondern.“ (Lenin). Am 1. Mai auf der DGB-Demonstration mit den Betrieben zu laufen, in denen man organisiert ist, kämpferische Forderungen auszuarbeiten, die man an diesem Tag auf die Straße trägt, in den Wochen und Monaten vorher in Bündnissen für eine kämpferische Demonstration einstehen, das ist die Arbeit, mit der man beweist, auf wessen Seite man steht. Viele Menschen, auch innerhalb der Gewerkschaften, sind enttäuscht von dem Kurs, den die Gewerkschaftsführungen fahren. Das bringt sie aber noch lange nicht auf eine „revolutionäre“ 1. Mai Demonstration. Unsere Aufgabe ist es, mit diesen Menschen innerhalb der Gewerkschaften für einen kämpferischen Kurs einzustehen, sich nicht abzugrenzen, sondern die Verbindung im Kampf für das geeinte Klasseninteresse zu stärken.

Wir können (und müssen) beginnen, den Sozialismus aufzubauen, und zwar nicht aus einem phantastischen und nicht aus einem von uns speziell geschaffenen Menschenmaterial, sondern aus dem Material, das uns der Kapitalismus als Erbteil hinterlassen hat.“. Der 1. Mai ist jedes Jahr aufs Neue der Prüfstein für die Einheitlichkeit und das Bewusstsein der Arbeiterklasse. Lernen wir also seinem Namen gerecht zu werden und ihn wieder zum Kampftag der Klasse zu machen.