Ein Stadtteil verliert seine Notaufnahme, ein ganzes Land seine medizinische Grundversorgung. Der Fall des Wilhelmsburger Krankenhauses „Groß-Sand“ steht exemplarisch für den Verfall eines Gesundheitssystems, das dem Markt ausgeliefert wurde.
Tränen und Wut auf der Elbinsel
Am 15. Juli 2025 versammelten sich rund 1.000 Menschen auf dem Stübenplatz in Hamburg-Wilhelmsburg, um gegen die Schließung der Notaufnahme und der chirurgischen Abteilung des Krankenhauses Groß-Sand zu demonstrieren. Es war ein kraftvoller, emotionaler Protest – mit Tränen, Empörung und Wut. Denn mit dem Verlust der Notaufnahme verliert die Elbinsel Wilhelmsburg ihre wichtigste medizinische Anlaufstelle. Für akute Notfälle müssen die 55.000 Bewohnerinnen und Bewohner künftig auf Krankenhäuser in anderen Stadtteilen ausweichen – ein Risiko für Menschenleben in einem bereits unterversorgten Hamburger Süden.
Ein Krankenhaus kämpft – und verliert
Die Schließung von Groß-Sand ist kein isoliertes Ereignis, sondern das Ergebnis einer seit Jahren andauernden politischen und wirtschaftlichen Fehlsteuerung. Schon 2020 musste die angeschlossene Pflegeschule ihre Türen schließen. Und das bei seit Jahren beklagten Personalmangel. Das Krankenhaus selbst stand unter Druck – nicht etwa wegen schlechter Versorgung, sondern wegen eines Sanierungsstaus in Millionenhöhe und einer Finanzierung, die das Überleben kleinerer Häuser systematisch unmöglich macht.
Mit der Einführung der sogenannten DRGs (Diagnosis Related Groups) im Jahr 2004 wurde das Krankenhauswesen in Deutschland grundlegend verändert. Nicht mehr der tatsächliche Aufwand und die Versorgung des Patienten standen im Mittelpunkt, sondern ein pauschalierter Festpreis pro Diagnose. Je kürzer der Aufenthalt und je standardisierter der Eingriff, desto rentabler für die Klinik. Für komplexe, langwierige oder „unprofitable“ Behandlungen – wie etwa geriatrische oder palliative Versorgung – bleibt kaum finanzieller Spielraum.
Groß-Sand konnte da nicht mithalten. Das Haus erfüllte eine wichtige Rolle als Grund- und Regelversorger, war aber nicht auf Spezial-OPs mit hoher Rendite ausgelegt. Und so war die finanzielle Schieflage keine Ausnahme, sondern eher Regel: Rund 800 der 1.400 Krankenhäuser in Deutschland sind laut Prognosen vom wirtschaftlichen Kollaps bedroht.
Der Protest spricht eine deutliche Sprache
Trotz aller Rückschläge regte sich immer wieder Widerstand – nicht nur in Wilhelmsburg. Bereits 2018 formierte sich in Hamburg die Initiative für mehr Personal in Krankenhäusern, die in kürzester Zeit genügend Unterschriften für ein Volksbegehren sammelte. Der Kern ihrer Forderung war einfach, aber fundamental: mehr Pflegekräfte, bessere Arbeitsbedingungen und eine Abkehr vom ökonomischen Druck.
2021 schließlich ging die Bewegung in die Offensive: Immer wieder Protest, von Patienten, Gewerkschaften, Beschäftigten und Stadtteilgruppen. In Wilhelmsburg fand eine der größten Demonstrationen gegen die Schließung der Pflegeschule statt.
Romana Knezevic, Betriebsrätin im Krankenhaus St. Georg, brachte die katastrophalen Zustände in den Krankenhäusern öffentlich auf den Punkt – und wurde dafür prompt entlassen. Ein Skandal, der breite Solidarität auslöste. Die Pflegekräfte, die unter Corona Höchstleistungen erbrachten, hatten nicht einmal alle die versprochenen Prämien erhalten. Währenddessen kassierten Konzerne wie Asklepios oder Helios Milliarden an staatlichen Beihilfen.
Eine Reform nach der anderen – und doch keine Lösung
Seit Jahren kündigen Bundesregierungen Reformen an, doch es bleibt beim Etikettenschwindel. Gesundheitsminister Karl Lauterbach versprach 2022 eine „Revolution des Systems“ und präsentierte eine neue Krankenhausreform. Diese Reform basiert auf einer Zwei-Säulen-Finanzierung – einer Kombination aus sogenannten Vorhaltepauschalen und reduzierten Fallpauschalen. Doch Kritiker wie die Initiative für ein gemeinwohlorientiertes Gesundheitswesen warnen: Diese Reform ist reine Umverteilung und wird den Abbau der flächendeckenden Versorgung weiter verschärfen.
Denn im Zentrum steht eine Konzentration auf große Maximalversorger. Kleinere Häuser wie Groß-Sand, die keine „Leistungsgruppen“-Kriterien erfüllen, dürfen bestimmte Behandlungen nicht mehr anbieten – selbst wenn sie über die notwendige Erfahrung verfügen. Diese Maßnahmen folgen der Logik der Rentabilität, nicht der Versorgung.
Der Anfang vom Ende: Die DRGs
Der Ursprung dieses Desasters lässt sich auf die Einführung der DRGs unter der damaligen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt zurückführen – beraten vom heutigen Minister Lauterbach. Seine Argumentation damals: Patienten würden unnötig lange im Krankenhaus bleiben, was die Finanzen belaste. Die Lösung? Festpreise, schnellere Entlassungen, mehr Effizienz. Was als Modernisierung verkauft wurde, war in Wahrheit der Einstieg in die Ökonomisierung der Medizin.
DRGs machen aus Patientinnen und Patienten wirtschaftliche Fälle. Wer jung, gesund und gut planbar ist, „lohnt“ sich. Alte, chronisch kranke oder mehrfach erkrankte Menschen – das sind für Kliniken Verluste.
Der nächste Schlag: Die Reform 2025 in NRW
Am 1. April 2025 trat in NRW eine neue Krankenhausreform in Kraft. Offiziell sollte sie weniger Bürokratie, mehr Qualität und eine Entökonomisierung bringen. In Wirklichkeit wurde das System lediglich neu marktkonform strukturiert. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) warnte vor längeren Wartelisten, Fehlanreizen und mehr Bürokratie. Die Realität zeigt: Schließungen, Personalnotstand, verzweifelte Patientinnen und Patienten.
Holweide, Köln, Groß-Sand, Hamburg – überall das gleiche Drama
In Köln wurde trotz massiven Protests das traditionsreiche Krankenhaus Holweide mit seiner Kinderklinik, Intensivstation und Geburtshilfe zur Schließung freigegeben – mit Billigung von Lauterbach, der aus genau diesem Wahlkreis stammt. Seine angebliche „Revolution“ bedeutet nichts anderes als ein großflächiger Rückzug aus der Daseinsvorsorge.
Die Antwort: Raus aus der Profitlogik
Seit 2020 wurden in Deutschland 93 Kliniken geschlossen, 13 Geburtsstationen aufgegeben, weitere Häuser stehen vor der Insolvenz. Und Lauterbach kündigt an: „In zehn Jahren werden wir ein paar Hundert Krankenhäuser weniger haben – und das ist auch richtig so.“
Doch diese Sichtweise ist nicht alternativlos. Gesundheitsversorgung ist eine öffentliche Aufgabe. Sie darf nicht länger der Logik des Marktes folgen. Eine echte fortschrittliche Veränderung würde bedeuten:
– Die DRGs abschaffen,
– die Finanzierung auf Selbstkostendeckung umstellen,
– Investitionen durch die Länder sichern,
– Personalschlüssel gesetzlich garantieren,
– und eine flächendeckende Grundversorgung sichern – auch im ländlichen Raum und in Stadtteilen wie Wilhelmsburg.
Die Elbinsel kämpft weiter
Am 21. Juli 2025 füllten über 100 Menschen den großen Festsaal des Hamburger Rathauses zur Anhörung im Gesundheitsausschuss. Rund 30 Rednerinnen und Redner – darunter Ärzte, Krankenpfleger, Anwohner, Lehrer, Betriebsräte – sprachen sich vehement gegen die Schließung von Groß-Sand aus.
Die Proteste in Wilhelmsburg zeigen: Die Bevölkerung lässt sich ihre Gesundheitsversorgung nicht kampflos nehmen. Der Widerstand wächst – und mit ihm die Hoffnung, dass irgendwann Schluss ist mit der Ökonomisierung unseres Gesundheitswesens.
Denn Gesundheit ist keine Ware!