Spur der Erinnerung an die „Euthanasie“-Morde

Über hunderttausend Menschen waren an der größten Massenaktion in Baden-Württemberg seit den Protesten 1983 gegen die Stationierung von Pershing-Raketen beteiligt. Vom 12. Oktober bis zum 16.Oktober 2009 wurde mit einer über 70 km langen Farbspur vom Vernichtungsort Grafeneck bis zum baden-württembergischen Innenministerium der vor 70 Jahren begonnenen Ermordung von so genanntem „lebensunwertem“ Leben durch das NS-Regime gedacht. Diese so genannte Aktion T4 war in Berlin geplant und vom Innenministerium Württembergs praktisch umgesetzt worden.

Die Aktionen zur „Spur der Erinnerung“ waren ausgesprochen vielfältig und erreichten breite Teile der Bevölkerung. Am 12. Oktober startete die Woche mit einem wissenschaftlichen Symposium in Stuttgart. Am 13.10. gab es eine Gedenkfeier in Grafeneck, einem Heim für Behinderte, das von den Nazis 1940 und 1941 beschlagnahmt und zur Ermordung geistig und psychisch Kranker sowie Behinderter missbraucht wurde. Über 10.000 Menschen wurden in der ersten industriell organisierten Tötungsanlage mit Gas ermordet. Für die Nazis war dies der Probelauf für weitere Massenmorde. Die Technik, die in Grafeneck erprobt wurde, konnte so später in den großen Vernichtungslagern wie Auschwitz genutzt werden. Die meisten Beschäftigten in Grafeneck konnten denn auch anschließend in den KZs, insbesondere den Vernichtungslagern ihre Karriere als Mörder fortsetzen.

In Grafeneck wurde am 13.10.09 eine Farbspur auf die Straße gemalt. Wie ein Stafettenlauf wurde die Spur von Ort zu Ort weitergeführt. Schulen, Einrichtungen für Behinderte, Aktionskreise beteiligten sich. Über Bad Urach, Dettingen, Metzingen, Leinfelden-Echterdingen führte die Spur schließlich bis in die Innenstadt von Stuttgart, wo sie am Freitag, dem 16.10., vor dem Innenministerium endete. Dort waren vor 70 Jahren die Morde angeordnet worden. Dort wurden die Listen mit den Opfern geschrieben.

Am Tag zuvor war auf dem Schlossplatz in Stuttgart das Denkmal der „Grauen Busse“ aufgestellt worden. Die Behinderten wurden in grauen Bussen in ihren Einrichtungen abgeholt und nach Grafeneck transportiert, wo sie noch am gleichen Tag ins Gas getrieben und ermordet wurden.

1941 stellten die Nazis die Mordaktion in Grafeneck ein, weil zum einen das Soll an Morden übererfüllt war, aber auch die Empörung in der Bevölkerung so stark angewachsen war, dass das Regime sich gezwungen sah, an dieser Stelle aufzuhören. An anderen Orten in Deutschland wurde die „Aktion T4“ zur Ermordung Behinderter fortgeführt.

Zum Abschluss der Aktionswoche wurde auf dem Karlsplatz direkt vor dem Innenministerium ein großes Fest zahlreicher Initiativen durchgeführt. Auf der Hauptbühne spielte unter anderem die „Brenz-Band“ eine Gruppe von behinderten und nicht behinderten Musikern mit großem Erfolg. Bei einer Kundgebung wurde vor dem Innenministerium der Opfer dieses Massenmordes gedacht. In Zelten gab es weitere Veranstaltungen wie Lesungen, Filme, Tanz und Theater. Obwohl es kalt und regnerisch war, war das Fest sehr gut besucht.

Ausgegangen war die Aktion von den Stuttgarter Stolperstein-Initiativen. Eine kleine Gruppe hatte damit vor drei Jahren begonnen. Sie hat es geschafft ein breites Bündnis herzustellen, das hunderte lokale Initiativen, zahlreiche Verbände, kirchliche Gruppen usw. umfasste. So wurde aus einer kleinen Initiative eine beeindruckende Massenbewegung. Die Aktion ist jedoch nicht nur Erinnerung an die Verbrechen der Nazis, sondern auch ein Beitrag zum Kampf gegen die heutigen Nazis, die wieder neben Antifaschisten und Ausländern auch Behinderte, Obdachlose zusammenschlagen und töten, weil sie diese als „lebensunwert“ ansehen. Die Aktion stellte zugleich den Anspruch, dass Behinderte auch heute nicht als Kostenfaktor behandelt werden, sondern als Menschen. Sie hat sicher viele Menschen aufgerüttelt. Und sie wird weiter wirken – mit neuen Aktionen und Initiativen.

Bemerkenswert waren auch die vielen Behinderten, die an den Aktionen teilnahmen und deren Selbstbewusstsein stark war. Als eine Zuschauerin den Mundharmonikaspieler der Brenz-Band ansprach und meinte, so gut würde sie auch gern Mundharmonika spielen, meinte der lakonisch: „Wärst halt behindert!“