Am 9.Mai 2012 begann in Dortmund vor dem Landgericht der Prozess gegen die Umwelt-Skandalfirma Envio, ihren Chef Dirk Neupert und drei Kollaborateure.
Das Gerichtsgebäude ist leicht zu finden; vor dem Haupteingang stand schon eine etwas größere Gruppe von Menschen mit Schildern. Bei näherem Hinsehen erwies sich jedoch, dass zumindest die Schilderträger Mitglieder der Grünen waren, die offenbar den Prozess für ihren Wahlkampf missbrauchten.
Der Prozess fand in großen Saal 130 statt – der liegt im 2. Stock und einen Fahrstuhl gibt es angeblich nicht. Eine gehbehinderten Frau, die die Mühen des Treppensteigens auf sich nahm, um dabei zu sein, wurde von Gerichtsbediensteten damit vertröstet, dass im Laufe der Zeit das öffentliche Interesse nachlassen werde, dann könne man die folgenden Prozesstermine in einem kleineren Saal unten machen… Nachdem wir die Sicherheitsschleusen überstanden hatten, musste einer der Besucher feststellen, dass es im Landgericht – zumindest in dem für uns zugänglichen Teil – angeblich auch keine Toiletten gab…
Erstaunlicherweise waren zum Prozess alle vier Angeklagten erschienen, äußerten sich jedoch während der gesamten Termindauer nicht zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen. Die trug der Staatsanwalt etwa eine Stunde lang vor. Er war noch wesentlich ausführlicher als der schon informative Dokumentarfilm des WDR „Grünkohl, Gifte und Geschäfte“.
Danach wollte einer der Verteidiger eine Gegenrede vortragen. Der Richter entschied daraufhin, seine Vollmachten so auszulegen, dass er die Gegenrede zuließ, obwohl es dafür keine rechtliche Grundlage gibt. Dem widersprach der Staatsanwalt – allerdings vergebens.
Die „Gegenrede“ der Verteidigung glich dann eher einem Schlussplädoyer, was der Richter allerdings nicht unterband. Sie war entnervend lang, wimmelte von Unterstellungen („Hetzkampagne der Medien“, das Vorgehen des Umweltministers sei politisch motiviert, sachlich unbegründet und somit ein ungeheurer Skandal usw.), sie wimmelte von Spitzfindigkeiten wie unterschiedlichen juristischen Bewertungen von „Schadstoffen“ und „Abfällen“, und gipfelten in indirekten Drohungen gegen die 22 als Nebenkläger auftretenden geschädigten ehemaligen Envio-Beschäftigten. Er wies sie darauf hin, dass ihnen, falls sie den Prozess verlören, die Prozesskosten auferlegt würden… Außerdem beleidigte er sie, in dem er ihre gesundheitlichen Schäden auf „ungesunden Lebensstil“ zurückführte. Diesen Zynismus plapperte Neupert dann gegenüber Fernsehreportern nach. In allen Medien, die ich gesehen bzw. gelesen habe, wurde diese Aussage des Verteidigers herausgegriffen – insofern ist es vielleicht ganz gut, dass er seine „Gegenrede“ halten und sich so entlarven konnte… Mit der Erklärung hat er ja sogar Recht, nur vergisst er, dass ja gerade wegen des ungesunden Lebensstils der bei ihm Beschäftigten sein Mandant auf der Anklagebank sitzt… Ein weiteres tolles „Argument“ war, dass ja gar nicht nachgewiesen sei, wie stark die PCB-Belastung durch Envio bei den Geschädigten sei, denn bei ihrer Einstellung habe man nicht festgestellt, welchen PCB-Gehalt sie da „wie jeder von uns“ schon in sich hatten…
Dirk Neupert würden im Falle einer Verurteilung wegen vorsätzlicher Körperverletzung bis zu 10 Jahre Haft drohen, doch da er und seine drei Mittäter nur wegen fahrlässiger Körperverletzung angeklagt sind, haben sie keine Haftstrafe zu befürchten. Im Zuhörerraum waren einige Mitglieder der Bürgerinitiative, die dankbar klatschten, als die Seite der Staatsanwaltsschaft die Gegenrede der Verteidigung auch moralisch richtig einstufte. Ihr Klatschen wiederum veranlasste den Richter dazu, jede Reaktion aus dem Publikum zu untersagen. Die Mitglieder der Initiative sind überzeugt davon, dass es zwischen „denen da oben“ ein Gekungel gibt. „Die haben Angst davor, dass der Neupert auspackt, wenn sie ihn in die Zange nehmen.“
Mit dem Verlesen der „Gegenrede“ war der erste Prozesstag beendet. Der Richter teilte noch mit, dass es an den nächsten 5 oder 6 Terminen um die in der Vergangenheit für und gegen Envio erteilten Genehmigungen und Stilllegungbeschlüsse gehen werde – erst danach käme es zur Beweisaufnahme und zu Zeugenbefragungen. Eine der Prozessparteien zitierte aus den Akten einmal die Seite 6761 oder so ähnlich – das war bestimmt nicht die letzte Seite der Akten. Insgesamt rechnet er mit noch etwa 15 Terminen.
Soweit der Bericht eines am ersten Prozesstag anwesenden Zuhörers. Inzwischen haben weitere Termine stattgefunden, die aus stundenlangen Verlesen von jahrzehntealten Papieren aus den Genehmigungsverfahren bestanden. Interessant könnte es wieder am 4. Juli werden – da soll ein Gutachter aus Essen Stellung nehmen (Landgericht Dortmund, Raum 130, ab 9:30 Uhr).
Die Bürgerinitiative „PCB-Skandal“ trifft sich an jedem dritten Mittwoch eines Monats von 18-20 Uhr im Keuninghaus in Dortmund in der Leopoldstr. 52-58.
Zu ihrem Treffen im April kamen fast 60 Leute, zum Treffen im Mai – nach dem ersten Prozess – nur etwa 15. Die Erklärung ist wohl einfach: sie haben nicht etwa resigniert, sondern der April-Termin lag vor den Landtagswahlen in NRW und die um Stimmen buhlenden Parteien rannten der Bürgerinitiative die Bude ein. Nun sind die Wahlen vorbei, die Initiative ist uninteressant geworden, nur die Piraten kamen im Mai noch, sagten auch für die Zukunft ihre Unterstützung zu und fragten, wie sie helfen könnten. Die Empörung der im Mai Anwesenden über die übrigen Parteien ist groß. Die Linkspartei unterstützt die BI ebenfalls und auch ein Mitglied der Grünen – er ist wahrscheinlich ebenfalls ein Giftopfer.
Die 51 Geschädigten, deren Vergiftung durch die Arbeit in der Recycling-Firma Envio den 4 Angeklagten vorgeworfen wird, stehen auch dann, wenn der Prozess für sie mit einem Erfolg enden sollte, vor großen Schwierigkeiten. Ihre Verseuchung durch PCB wird nicht als Berufskranheit anerkannt, denn – anders als in anderen europäischen Ländern – sind in Deutschland die gesundheitsschädlichen Auswirkungen von PCB wissenschaftlich angeblich nicht bewiesen. So fahren die Opfer zwar zu allen möglichen Untersuchungen über die Veränderungen in ihrem Körper, z.B. nach Aachen, doch geholfen wird ihnen dort nicht – sie werden lediglich „medizinisch begleitet“, d.h. ihr Zustand wird datenmäßig festgehalten. Das ist richtig und notwendig, da dann unleugbare Fakten über die Gefährlichkeit vorliegen. Für zwei Jahre zahlt diese Untersuchungen die Berufsgenossenschaft – und dann?
Eine medizinische Betreuung der Opfer gibt es nicht, es sei denn die durch ihren Hausarzt, der jedoch im Normalfall nicht über die notwendigen Fachkenntnisse und technischen Untersuchungsmöglichkeiten verfügt, um PCB-Schäden zu erkennen bzw. zu behandeln. Ein PCB-verseuchter ehemaliger Envio-Beschäftigter drückte es sehr drastisch aus: “Zwei Jahre – und dann ab in die Tonne!”
Opfer der PCB-Vergiftung durch die Recyclingfirma Envio sind nicht nur die ehemals dort Beschäftigten, sondern z.B. auch ihre Familienangehörigen und die Anwohner. Jeder Mensch hat in seinem Körper eine gewisse PCB-Belastung, doch die Werte bei den Envio-Geschädigten liegen z.T. um das mehr als Hundertfache über diesen Werten. Einen Grenzwert, der nicht überschritten werden dürfte, gibt es nicht, da jede – auch die geringste – PCB-Konzentration schädlich ist. Daher hat man einen „Referenzwert“ gewissermaßen zusammengebastelt, der nicht überschritten werden darf, bei Envio aber deutlich überschritten wurde.
Prof. Michael Wilhelm, Arbeitsmediziner der Universität Bochum, wies übrigens darauf hin: „Zum Beispiel lässt sich über eine Blutanalyse unterscheiden, ob die PCB-Belastung über die Nahrung oder die Luft entstanden ist.“ (1) Damit wäre die unverschämte Unterstellung eines „ungesunden Lebensstils“ der Vergifteten dann auch wissenschaftlich vom Tisch…
Völlig unklar ist übrigens auch noch, was mit dem verseuchten Gelände der inzwischen stillgelegten Envio-Anlagen und mit deren Umgebung im Hafengelände passieren soll – der Boden ist hochgradig vergiftet. Durch den Lastwagenverkehr wird der verschmutzte Boden aufgewirbelt und das Gift mit Feinstaub weiterhin verbreitet. Die Bürgerinitiative hat den Eindruck, dass der Skandal im wahrsten Sinne des Wortes unter den Teppich gekehrt werden soll. Der Hafen soll als Wirtschaftsstandort ausgebaut werden und es besteht die Gefahr, dass über den kontaminierten Boden lediglich eine Gesteinsdecke gekippt wird. „Die bauen keinen Wirtschaftsstandort – die bauen eine Müllkippe aus,“ drückte das ein Mitglied der BI sarkastisch aus.
Übrigens: Herr Neupert macht in Südkorea genau so weiter, wie es ihm in Dortmund untersagt wurde. Auch dort huldigen die Arbeiter einem “ungesunden Lebensstil”…
Die Bürgerinitiative hat übrigens eine Hompepage mit vielen Informationen: www.pcb-scandal.de. Hier (oder bei YouTube bzw. im Archiv des WDR) kann man sich auch die etwa 45minütige, sehr eindrucksvolle Dokumentation des WDR „Grünkohl, Gifte und Geschäfte“ ansehen.
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1) Recklinghäuser Zeitung bzw. Zeitungshaus Bauer, 19.6.2012