Kritik an dem Aufruf „Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen“

Mehr als 60 Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien warnen in einem Aufruf eindringlich vor einem Krieg mit Russland und fordern eine neue Entspannungspolitik für Europa. Ihren Appell richten sie an die Bundesregierung, die Bundestagsabgeordneten und die Medien.

Initiiert wurde der Aufruf vom früheren Kanzlerberater Horst Teltschik (CDU), dem ehemaligen Verteidigungsstaatssekretär Walther Stützle (SPD) und der früheren Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne). „Uns geht es um ein politisches Signal, dass die berechtigte Kritik an der russischen Ukraine-Politik nicht dazu führt, dass die Fortschritte, die wir in den vergangenen 25 Jahren in den Beziehungen mit Russland erreicht haben, aufgekündigt werden“, sagt Teltschik zur Motivation für den Appell.

Unterzeichnet haben den Text unter anderem die ehemaligen Regierungschefs von Berlin und Brandenburg, Eberhard Diepgen und Manfred Stolpe, der ehemalige SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel, Alt-Bundeskanzler Gerhard Schröder, Alt-Bundespräsident Roman Herzog und der Schauspieler Mario Adorf.

Es ist ja begrüßenswert, dass sich Persönlichkeiten aus dem bürgerlichen Lager gegen die militaristische Politik Deutschlands, der EU und der NATO wenden. Wenn man dabei auf Namen wie Horst Teltschik stößt, der von 1999 bis 2008 die so genannte „NATO-Sicherheitskonferenz“ in München leitete, dann können einem schon Zweifel kommen. Und auch inhaltlich muss man Einiges an dem Aufruf kritisieren.

  • „Aber die Erfolge der Entspannungspolitik und der friedlichen Revolutionen haben schläfrig und unvorsichtig gemacht.“ Was meinen wohl die Autoren mit „Entspannungspolitik“ und „friedlichen Revolutionen“? Offenbar ist die Zeit nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der anderen Länder des Ostblocks gemeint. So entspannt war diese Zeit aber gar nicht. Die USA und die NATO führten Kriege in Jugoslawien, in Afghanistan und im Irak, Russland in Tschetschenien und Georgien – um nur die wichtigsten zu nennen. Natürlich spielte bei diesen Kriegen auch die Rivalität zwischen der EU und USA einerseits, Russland andrerseits eine große Rolle.

  • „Bei Amerikanern, Europäern und Russen ist der Leitgedanke, Krieg aus ihrem Verhältnis dauerhaft zu verbannen, verloren gegangen.“ In dieser Aussage sind gleich zwei Dinge verquer: einmal sind es bestimmt nicht die Amerikaner, die Europäer und die Russen, die plötzlich kriegerisch geworden sind, sondern die amerikanischen, europäischen und russischen Imperialisten, und zweitens ist den Imperialisten der Leitgedanke, Krieg aus ihrem Verhältnis zu verbannen, nicht verloren gegangen, sondern sie haben diesen Leitgedanken noch nie besessen. Lenin zitiert zustimmend Clausewitz, dass der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln sei. Folglich sind imperialistische Kriege auch die Fortsetzung imperialistischer Politik.

  • „…trägt Deutschland besondere Verantwortung für die Bewahrung des Friedens. Ohne die Versöhnungsbereitschaft der Menschen Russlands, ohne die Weitsicht von Michael Gorbatschow, ohne die Unterstützung unserer westlichen Verbündeten und ohne das umsichtige Handeln der damaligen Bundesregierung wäre die Spaltung Europas nicht überwunden worden.“ Hier wird wenigstens einmal auf die Rolle des Volkes als Faktor für den Frieden hingewiesen, aber gleich wieder wird das eingerahmt von der „Weitsicht von Michael Gorbatschow“, der „Unterstützung unserer westlichen Verbündeten“ und, schau, schau, das „ umsichtige Handeln der damaligen Bundesregierung“ wird gelobt. Letzteres war bekanntlich die Regierung Kohl, welche die sturmreife DDR unter falschen Versprechungen einfach in die BRD eingegliedert hat, nicht ohne sich selbst und das westdeutsche Kapital dabei schamlos sich bereichern zu lassen.

  • „Die deutsche Einheit friedlich zu ermöglichen, war eine große, von Vernunft geprägte Geste der Siegermächte.“ Das ist eine erneute Redewendung, um den imperialistischen Mächten Europas, der USA und Russland Friedfertigkeit zu bescheinigen.

  • „Wir…appellieren an die Bundesregierung, ihrer Verantwortung für den Frieden in Europa gerecht zu werden.“

  • „Wir appellieren an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages…“

  • „Wir appellieren an die Medien, ihrer Pflicht zur vorurteilsfreien Berichterstattung überzeugender nachzukommen als bisher.“

Das ist insgesamt der Fehler diese Aufrufs, dass nur an die Regierenden, das Parlament und die Medien appelliert wird, von denen schon hinlänglich bekannt ist, dass sie mehrheitlich diesen kriegshetzerischen Kurs unterstützen. Es ist da schon ein bisschen makaber, wenn man die Medien dazu auffordert, ihrer Pflicht zur vorurteilsfreien Berichterstattung überzeugender nachzukommen als bisher. Das war wohl bisher nicht so überzeugend? Na ja, Spaß bei Seite.

Worauf es vor allem ankäme, wäre die Politik der Bundesregierung und ihr Spiel mit dem Krieg sowie die Hetze und Lügen der bürgerlichen Presse bloßzustellen.

Damit wachsen auch die Möglichkeiten, die Bevölkerung gegen einen drohenden Krieg zu mobilisieren.

S.N.

 


 

Im Anschluss der Wortlaut des Aufrufs im Ganzen:

 

Wieder Krieg in Europa? Nicht in unserem Namen!

Niemand will Krieg. Aber Nordamerika, die Europäische Union und Russland treiben unausweichlich auf ihn zu, wenn sie der unheilvollen Spirale aus Drohung und Gegendrohung nicht endlich Einhalt gebieten .Alle Europäer, Russland eingeschlossen, tragen gemeinsam die Verantwortung für Frieden und Sicherheit. Nur wer dieses Ziel nicht aus den Augen verliert, vermeidet Irrwege.

Der Ukraine-Konflikt zeigt: Die Sucht nach Macht und Vorherrschaft ist nicht überwunden. 1990, am Ende des Kalten Krieges, durften wir alle darauf hoffen. Aber die Erfolge der Entspannungspolitik und der friedlichen Revolutionen haben schläfrig und unvorsichtig gemacht. In Ost und West gleichermaßen. Bei Amerikanern, Europäern und Russen ist der Leitgedanke, Krieg aus ihrem Verhältnis dauerhaft zu verbannen, verloren gegangen. Anders ist die für Russland bedrohlich wirkende Ausdehnung des Westens nach Osten ohne gleichzeitige Vertiefung der Zusammenarbeit mit Moskau, wie auch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch Putin, nicht zu erklären.

In diesem Moment großer Gefahr für den Kontinent trägt Deutschland besondere Verantwortung für die Bewahrung des Friedens. Ohne die Versöhnungsbereitschaft der Menschen Russlands, ohne die Weitsicht von Michael Gorbatschow, ohne die Unterstützung unserer westlichen Verbündeten und ohne das umsichtige Handeln der damaligen Bundesregierung wäre die Spaltung Europas nicht überwunden worden. Die deutsche Einheit friedlich zu ermöglichen, war eine große, von Vernunft geprägte Geste der Siegermächte. Eine Entscheidung von historischer Dimension. Aus der überwundenen Teilung sollte eine tragfähige europäische Friedens- und Sicherheitsordnung von Vancouver bis Wladiwostok erwachsen, wie sie von allen 35 Staats- und Regierungschefs der KSZE-Mitgliedsstaaten im November 1990 in der „Pariser Charta für ein neues Europa“ vereinbart worden war. Auf der Grundlage gemeinsam festgelegter Prinzipien und erster konkreter Maßnahmen sollte ein „Gemeinsames Europäisches Haus“ errichtet werden, in dem alle beteiligten Staaten gleiche Sicherheit erfahren sollten. Dieses Ziel der Nachkriegspolitik ist bis heute nicht eingelöst. Die Menschen in Europa müssen wieder Angst haben.

Wir, die Unterzeichner, appellieren an die Bundesregierung, ihrer Verantwortung für den Frieden in Europa gerecht zu werden. Wir brauchen eine neue Entspannungspolitik für Europa. Das geht nur auf der Grundlage gleicher Sicherheit für alle und mit gleichberechtigten, gegenseitig geachteten Partnern. Die deutsche Regierung geht keinen Sonderweg, wenn sie in dieser verfahrenen Situation auch weiterhin zur Besonnenheit und zum Dialog mit Russland aufruft. Das Sicherheitsbedürfnis der Russen ist so legitim und ausgeprägt wie das der Deutschen, der Polen, der Balten und der Ukrainer. Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen. Das wäre unhistorisch, unvernünftig und gefährlich für den Frieden. Seit dem Wiener Kongress 1814 gehört Russland zu den anerkannten Gestaltungsmächten Europas. Alle, die versucht haben, das gewaltsam zu ändern, sind blutig gescheitert – zuletzt das größenwahnsinnige Hitler-Deutschland, das 1941 mordend auszog, auch Russland zu unterwerfen.

Wir appellieren an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, als vom Volk beauftragte Politiker, dem Ernst der Situation gerecht zu werden und aufmerksam auch über die Friedenspflicht der Bundesregierung zu wachen. Wer nur Feindbilder aufbaut und mit einseitigen Schuldzuweisungen hantiert, verschärft die Spannungen in einer Zeit, in der die Signale auf Entspannung stehen müssten. Einbinden statt ausschließen muss das Leitmotiv deutscher Politiker sein.

Wir appellieren an die Medien, ihrer Pflicht zur vorurteilsfreien Berichterstattung überzeugender nachzukommen als bisher. Leitartikler und Kommentatoren dämonisieren ganze Völker, ohne deren Geschichte ausreichend zu würdigen. Jeder außenpolitisch versierte Journalist wird die Furcht der Russen verstehen, seit NATO-Mitglieder 2008 Georgien und die Ukraine einluden, Mitglieder im Bündnis zu werden. Es geht nicht um Putin. Staatenlenker kommen und gehen. Es geht um Europa. Es geht darum, den Menschen wieder die Angst vor Krieg zu nehmen. Dazu kann eine verantwortungsvolle, auf soliden Recherchen basierende Berichterstattung eine Menge beitragen.

Am 3. Oktober 1990, am Tag der Deutschen Einheit, sagte Bundespräsident Richard von Weizsäcker: „Der Kalte Krieg ist überwunden. Freiheit und Demokratie haben sich bald in allen Staaten durchgesetzt. … Nun können sie ihre Beziehungen so verdichten und institutionell absichern, dass daraus erstmals eine gemeinsame Lebens- und Friedensordnung werden kann. Für die Völker Europas beginnt damit ein grundlegend neues Kapitel in ihrer Geschichte. Sein Ziel ist eine gesamteuropäische Einigung. Es ist ein gewaltiges Ziel. Wir können es erreichen, aber wir können es auch verfehlen. Wir stehen vor der klaren Alternative, Europa zu einigen oder gemäß leidvollen historischen Beispielen wieder in nationalistische Gegensätze zurückzufallen.“

Bis zum Ukraine-Konflikt wähnten wir uns in Europa auf dem richtigen Weg. Richard von Weizsäckers Mahnung ist heute, ein Vierteljahrhundert später, aktueller denn je.