„Christliche Nächstenliebe“ – ein Plagiat…

Die gefährlichsten Christen sind die guten Christen, denn man verwechselt sie mit dem Christentum“ (Karl-Heinz Deschner)

Eine Beschäftigung mit diesem Thema erscheint uns seit längerem notwendig, was durch das Verhalten mancher Menschen, Parteien und Organisationen angesichts der weltweiten Flüchtlingsnot noch verstärkt wird.

Es gibt unseres Erachtens zwei Hauptthemen, die alle Christen gemeinsam haben unabhängig davon, welcher der zahlreichen Kirchen oder Sekten sie angehören. Das ist zum einen das Streben nach dem eigenen Seelenheil und zum anderen das, was sie als „christliche Nächstenliebe“ bezeichnen. Und unabhängig davon, welcher dieser Kirchen- oder Sektenströmung sie angehöre, lassen sich die jeweiligen Mitglieder in zwei Gruppen einteilen je nach dem, auf welches der beiden genannten Themen sie den Schwerpunkt legen.

Wir interpretieren den Kirchenkritiker Deschner sicherlich nicht falsch, wenn wir sagen, mit den „guten Christen“ meint er diejenigen, denen das Wohl ihrer Mitmenschen mehr am Herzen liegt als das eigene Seelenheil. Bei der dann anderen Gruppe halten wir es sogar für möglich, dass etliche von ihnen sich für ihre Mitmenschen nur einsetzen, um Pluspunkte für ihr Leben im Himmel zu sammeln, also aus egoistischen Motiven und nicht aus Nächstenliebe. Von ihrem Gott nehmen sie dann offenbar an, dass er diese niederen Motive nicht durchschaut…

Unsere politische Erfahrung hat uns gelehrt, dass wir mit den Christen, für die die Nächstenliebe im Vordergrund steht, politisch gut zusammenarbeiten können, weil sie das empört, was auch uns empört. Wir können uns an zahlreiche Kundgebungen erinnern, bei denen die Redebeiträge von Pax Christi mit die schärfte Kritik am Kapitalismus und Imperialismus zum Ausdruck brachten Bei denjenigen Christen, denen das eigene Seelenheil wichtiger ist, sieht das schon etwas anders aus, von denen sind viele z.B. in großen, sich christlich nennenden Parteien… Oder sollten das die wirklichen Christen sein?

Wir sind der Meinung, dass das, was als „christliche Nächstenliebe“ bezeichnet wird, nichts anderes ist als ganz natürliche Menschlichkeit und dass es in allen Gesellschaftssystemen und in allen Religionen Menschen gibt, die human = menschlich handeln, auch im derzeit von gewissen Kreuzritter-Kreisen attackierten Islam. In allen Religionen, in allen bisherigen Gesellschaftssystemen lassen sich Menschen finden, die ihrer Natur entsprechend human handeln, und solche, die brutal handeln – inhuman, unmenschlich, beide Vorsilben sagen eigentlich schon genug aus, der Volksmund“ formuliert hier durchaus wissenschaftlich korrekt. Das wirft natürlich die Frage auf: Woher kommt diese Unmenschlichkeit? Was bringt Menschen dazu, ihrer Natur widersprechend zu handeln?

Karl Marx hat die Religion als „Opium für’s Volk“ bezeichnet, Lenin hat sie als „Opium des Volkes“ bezeichnet – es gibt Intellektuelle, die daraus einen Widerspruch zwischen Marx und Lenin konstruieren wollen. Nur gibt es da keinen Widerspruch außer: Der eine stellt in den Vordergrund die Frage, warum Opium verteilt wird, und der andere die Frage, warum Opium angenommen wird. Weder Marx noch Lenin noch wir als Atheisten wollen gläubige Menschen als Drogensüchtige bezeichnen. Marx und Lenin gehen dabei von einer Ausbeutergesellschaft aus, bei denen die Ausbeuter die Droge verteilen, damit die Ausgebeuteten ihre Pein nicht so empfinden; das ist auch der Grund, aus dem Ausgebeutete sich betäuben…

Als Kommunisten sind wir gegen alles, was unser Gehirn betäubt, aber wir stellen es den Menschen frei, ob sie an einen Gott glauben wollen oder nicht. Anders ist es mit der Institution – z.B. der christliche Kirchenapparat hat immer mit den wirtschaftlich und politisch herrschenden Kreisen zusammengearbeitet – gegen die Unterdrückten und Ausgebeuteten und dabei die Religion als Droge benutzt. Das gilt auch für andere Großreligionen. Einfache Mitglieder der Religionsgemeinschaft haben sich oft auf die Seite der Unterdrückten und Ausgebeuteten gestellt, auch mit der Waffe in der Hand wie der Priester Camillo Torres. Sie haben „christliche Nächstenliebe“ praktiziert und „mit Taten gebetet“.

Sophie Scholl, von den Nazis ermordetes Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“, war Christin. Sie hat in ihrem Glauben die Kraft gefunden, der Folter zu widerstehen und ihre Mitstreiter nicht zu verraten. Ein Marxist hätte ihr jetzt klar gemacht, dass „Religion Opium für’s Volk“ ist und er hätte – wissenschaftlich gesehen – damit Recht gehabt. Ein Kommunist hätte das nicht getan, er hätte Sophie in ihrem Glauben bestärkt, denn andernfalls hätte er ihr die Quelle ihrer Kraft genommen und damit das Werk der Nazis verrichtet.

Wir haben sinngemäß geschrieben: christliche Nächstenliebe und Menschlichkeit sind identisch, es liegt in der Natur des Menschen, sich seinen Mitmenschen gegenüber human zu verhalten. Das lässt sich dadurch beweisen, dass (nicht nur) der Mensch, seit es ihn gibt, in sozialen Gruppen lebt und ihm ein entsprechendes Verhalten angeboren ist. Der einzelne Mensch bringt seine Fähigkeiten in die Gruppe ein, die dadurch einen Vorteil hat, und die Gruppe bietet dem einzelnen Menschen Schutz und Unterstützung. Das gilt übrigens für alle in sozialen Gruppen lebenden Tierarten: Sie unterstützen sich gegenseitig im Kampf ums Dasein und kämpfen nicht, wie es Sozialdarwinisten behaupten, gegeneinander, bis der Schwächere oder nicht so Fähige ausgerottet ist. Wenn es Kämpfe in der Gruppe gibt, dann z.B. um Positionen, die mit Pflichten verbunden sind und für das Zusammenleben der Gruppe wichtig sind. Dass ein Teil der Gruppe auf Kosten des anderen Teils lebt, das gibt es nur bei der „Krone der Schöpfung“, und auch erst seit etwa zehn- bis zwölftausend Jahren.

Brutales, unmenschliches Verhalten wie derzeit das der Salafisten, bei Boku Haram usw. ist nicht neu, das hat es in der Geschichte der letzten zehn- bis zwölftausend Jahre immer wieder gegeben. Es ist zurückzuführen auf die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Menschen leben. Und der Missbrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse spielt da auch eine Rolle.

„Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“, schrieb Karl Marx. (Hervorhebung AZ) Verhaltensforschung und Psychologie sind verhältnismäßig junge Wissenschaften, erst nach Karl Marx ernsthaft betrieben – vorher gab es viel Vermenschlichung von Tierverhalten und umgekehrt. Die für Tiere geltenden Naturgesetzmäßigkeiten gelten in wahrsten Sinne des Wortes natürlich auch für den Menschen. Forschungen z.B. über die Prägung und die Traumatisierung belegen naturwissenschaftlich die Richtigkeit der von Karl Marx gemachten Aussage.

Der Mensch gehört zu den Tierarten, die ihr ganzes Leben lang lernen können, was zu seiner Sonderstellung im Tierreich beigetragen hat. Beim Verhalten unterscheiden die Wissenschaftler zwischen angeborenem und erlerntem Verhalten. Angeborenes Verhalten kann nicht durch Lernen verändert werden, das Individuum kann also nicht lernen, auf veränderte Situationen richtig zu reagieren. Beim Lernverhalten wird unterschieden zwischen zeitlich begrenzter Lernfähigkeit (Prägung) und zeitlich unbegrenztem Lernvermögen. Die Prägung wurde erst vor etwa 50 Jahren beobachtet und von Konrad Lorenz am Gänseküken Martina lustig zu lesen beschrieben, doch von ihm nicht wissenschaftlich untersucht. Heute weiß man darüber mehr. Es gibt verschiedene „Gebiete“ der Prägung, z. B. Nahrungsprägung, Geruchs- bzw. Geschmacksprägung, Sexualprägung, Ortsprägung… Sie alle haben gemeinsam, dass in der zeitlich begrenzten sensiblen Phase der Lernprozess erfolgt, danach nicht mehr – und das Erlernte kann nach dieser Phase zumindest bei den bisher untersuchten Tierarten nicht mehr geändert werden. Da die Forschung auf diesem Gebiet erst seit kurzem betrieben wird, ist noch nicht geklärt, wie weit das auf den Menschen übertragbar ist. Sicher ist jedoch, dass es ncht so automatisch funktioniert wie bei anderen Tierarten und dass es Therapieerfolge gibt.

Die wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Prägung werden jetzt aber von skrupellosen Politikern ausgenutzt, um Verhaltens-Monster heranzuzüchten. Entsprechende schlechte Lebensbedingungen können auch dazu beitragen, müssen es aber nicht. Hierfür ein Beispiel aus dem Coltan-Abbaugebiet in Zaire/Kongo. Zahlreiche dort lebende junge Frauen sind vergewaltigt worden, von Milizionären, von Soldaten der offiziellen Armee, von UNO-Soldaten. Viele von ihnen wurden schwanger und sorgen seitdem unter den elendsten Lebensbedingungen und unter den größten Opfern für ihr Kind, das sie bei eigentlich jedem Anblick an die schrecklichen Augenblicke der Vergewaltigung erinnern müsste.

Leider gibt es aber auch zahlreiche Gegenbeispiele wie die am US-Massaker in My Lai in Vietnam beteiligten Soldaten, wie Ku Klux Klan, wie NSDAP, wie jetzt ISIS, Boku Haram…

Hier zeigt auch die Psychologie, dass dauerndes rohes Verhalten Menschen „vertiert“; das beweisen z.B. Untersuchungen an Soldaten. Ein sehr hoher Prozentsatz der in Afghanistan eingesetzten Bundeswehrsoldaten kommt psychisch gestört zurück – einige von ihnen sind durch die lange psychische Belastung sogar zu skrupellosen Mordmaschinen geworden.

Die Christen werden sich zu Recht empören, wenn die Verbrechen der Nazis der Bibel angelastet werden – ebenso empören sich Mohammedaner zu Recht, wenn man die unmenschlichen Verbrechen der ISIS dem Koran anlastet. Unmenschliches Verhalten resultiert aus den gesellschaftlichen Verhältnissen und widerspricht der menschlichen Natur. Menschliches Verhalten entspricht der menschlichen Natur und ist kein Privileg irgendeiner Religion, also auch nicht des Christentums. „Christliche Nächstenliebe“ ist somit ein Plagiat!