Die Ereignisse des 17. Juni 1953: Ein Augenzeuge berichtet


Revisionistische Arroganz, Karikatur von Bujar Kapexhiu, 1983, Albanien

Walter Ulbricht – ein ‚Arbeiterführer‘ – aus dem Tagebuch von Alfred Kantorowicz

(Quelle: Ernst Deuerlein, ‚DDR 1945-1970. Geschichte und Bestandsaufnahme‘, München 1975)

Vorbemerkung

Am 17. Juni 1953, aber auch schon einen Tag davor, traten die Arbeiter verschiedener Großbetriebe der DDR – übrigens nicht nur in Ostberlin, sondern auch in vielen anderen Großstädten der DDR – in den Streik. Der unmittelbare Anlass: die willkürliche Heraufsetzung der Arbeitsnormen um ‚mindestens 10 Prozent‘ durch die SED-Führung und die Anhebung von Grundnahrungsmittelpreisen.

Nach der blutigen Niederschlagung der Proteste durch sowjetisches Militär – allein wäre die SED mit ihnen nicht fertig geworden – ordnete die SKK (die Sowjetische Kontrollkommission) an, führende SED-Politiker sollten in jenen Betrieben, die geschlossen gestreikt hatten, Ansprachen halten, um die Gemüter wieder zu beruhigen. Der später von Walter Ulbricht aus der SED ausgeschlossene Chefredakteur des Neuen Deutschland, Rudolf Herrnstadt, tat dies bei SAG Plania (eine Sowjetische Aktiengesellschaft) so überzeugend, dass die Belegschaft ihm schließlich applaudierte. Er hatte Verständnis für die Belange der Arbeiter gezeigt).

Walter Ulbricht hatte auch seinen Auftritt, über den Alfred Kantorowicz Folgendes in sein Tagebuch eintrug (‚Deutsches Tagebuch‘, Band 2, S. 383ff):

„Und dann gab er (Ewald, ein unter dem nationalsozialistischen Regime verurteilter kommunistischer Bekannter, Hrsg.) mir, anschaulich ins Einzelne gehend, den Bericht über die Versammlung, die gestern in den Niles-Werken mit Walter Ulbricht stattfand. Ich schreibe diese erregende Darstellung, seine Worte noch im Ohr, so nieder, wie ich sie von ihm gehört habe.

Etwa 700 Arbeiter füllten den Kultursaal. Ulbricht kam, eskortiert von acht Polizeimotorrädern. Die Polizisten umringten ihn bei seinem Eintritt. Die Arbeiter johlten, pfiffen und schrien, als die Polizei zur Bühne vordrang. ‚Pfui!‘ – ‚Ei-ei, wer kommt denn da mit so vielen Kindermädchen!‘ – ‚Polizei raus!‘ – ‚Hoch lebe der Arbeiterführer, der mit Polizeibedeckung zu den Arbeitern kommt!‘ – ‚Raus mit der Polizei oder mit Ulbricht!‘

Ulbricht flüsterte mit den Polizisten. Sie verließen die Bühne. Er ging ans Rednerpult. Ein Vorsitzender der ‚Nationalen Front‘ eröffneten die Versammlung; während er noch sprach, kamen die Polizisten mit Stühlen wieder in den Saal und setzten sich in die erste Reihe. Neue Empörung. ‚Nun langt’s uns aber!‘ – Pfui-Rufe, viele Arbeiter erhoben sich, um zu gehen. Ulbricht winkte den Polizisten, sie zogen sich zurück.

Er begann sein Referat ohne vorherige Einleitung. Schon beim ersten Satz wurde er unterbrochen. Etwa 150 bis 200 Arbeiter erhoben sich, stühlerückend, und stampften aus dem Saal. Andere schrien: ‚Genug, aufhören!‘ Ein Arbeiter stand auf und rief: ‚Diese Rede haben Sie schon zehnmal gehalten, und wir haben das alles schon hundertmal gehört. Wir wollen jetzt mal ganz konkret sprechen.‘ Ein anderer Arbeiter rief: ‚Hat ja doch keinen Sinn. Wir verstehen nicht, was Sie reden. Sie verlangen von unserer Jugend, dass sie richtig Deutsch spricht, und Sie selber haben es immer noch nicht gelernt.‘

Ulbricht steckte das Manuskript in die Rocktasche. Er sagte: ‚Ich bin ein Arbeitersohn, dem die kapitalistische Gesellschaft nur vier Jahre Schule erlaubt hat. Und ihr müsst es mir nicht übelnehmen, wenn ich auch heute manchmal fehlerhafte Sätze spreche. Aber darauf kommt es gar nicht an. Ihr versteht mich nur deshalb nicht, weil ihr nicht verstehen wollt, was ich euch zu sagen habe.‘ Rufe: ‚Hoho!‘

Nach anderen Zwischenrufen erhob sich in der Mitte des Saales Ewald und rief: ‚Ich muss schon sagen, Genosse Ulbricht, schwer machst du es uns. Wie stehen wir als einfache Genossen zwischen den Kollegen und sollen ihnen Rede und Antwort stehen, dass du hier mit Polizei herkommst.‘

Danach stand der Meister Wilke auf, ein 60jähriger, hochqualifizierter Arbeiter. Die Engländer, denen früher die Niles-Werke gehörten, sandten 1945 Besatzungsoffiziere in seine Wohnung, um ihn nach Bielefeld zu holen. Er blieb aber seinem Stammwerk treu. Er fragte Ulbricht: ‚Erklären Sie uns mal: Wenn ich schlecht arbeite an meinem Kessel, dann fliege ich. Sie haben öffentlich gestanden, dass Sie politisch schlecht gearbeitet haben, aber Sie bleiben. Und was gedenken Sie zu tun?‘

(Das saß. Es ging um den Posten).

Ulbricht reagierte wütend. ‚Sie lügen! Es ist nicht wahr. Bringen Sie mir den Beweis, dass ein guter Arbeiter entlassen wird, wenn er mal an seiner Maschine was falsch macht – etwas anderes ist es, wenn er die Maschine absichtlich kaputtmacht. Dann ist er ein Feind. Aber wer will behaupten, dass die Regierung ein Feind der Arbeiter ist!‘

Weitere Arbeiter schnellten ihre Fragen auf ihn ab. Einer verlangte, im Namen seiner Abteilung zu sprechen. Er sagte: ‚Zu mir haben die Arbeiter nämlich Vertrauen.‘ Er forderte: ‚Entfernung der Plakate und Losungen in Weißensee, keine übergroßen Bilder der Parteiführer. Wir wollen eine saubere Stadt haben.‘

Ein anderer rief: ‚Keine Versammlungen mehr!‘ Zwischenruf: ‚Und keine Aufbaugeschichten!‘

Dann verlangte der Gewerkschafter Wienke im Auftrag der Gewerkschaft Gruppe 9 die Freilassung der nach dem 17. Juni gemachten Gefangenen. Allein aus den Niles-Werken seien über 100 Arbeiter verschwunden.

Ulbricht entgegnete, viele Arbeiter seien bei Verhängung des Ausnahmezustandes nach West-Berlin geflüchtet. Man solle nicht glauben, alle, die seit Mittwoch nicht mehr da seien, wären verhaftet.

Ein anderer Meister sagte: ‚Wir haben schon hundertmal berechtigte Kritik geübt. Der Erfolg war immer gleich null, so dass wir schließlich über das, was wir jetzt über die Beschlüsse der Regierung, den so genannten Neuen Kurs erfuhren, alle nur sagten: Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube.‘

Ein Parteimitglied sagte: ‚Wir haben ja immer gewollt, dass frei gesprochen wird und kritisiert wird. Aber leider ist es so gekommen, dass wir zuletzt nicht mehr gewagt haben, den Mund aufzumachen.‘

Wieder ein anderer Meister beklagte sich über die schlechte Belieferung des Werkes mit Material und das Durcheinander der Arbeitsorganisation. Er sagte: ‚Es ist schon nicht mehr auszuhalten, dass wir immer nur Vorwürfe zu hören bekommen, wir erfüllen unseren Plan nicht. Wie sollen wir denn den Plan erfüllen, wenn uns kein Rohmaterial zur Verfügung gestellt wird.‘

Ein Freund von Ewald, der Arbeiter Kreisel, sagte: ‚Ich bin der Meinung, dass unsere Funktionäre im Betrieb lieber am Tag ein bis zwei Stunden durch den Betrieb gehen und mit den Arbeitern über ihre Sorgen sprechen sollen, als dass sie sich an ihren Schreibtisch setzen und einen Bericht schreiben, der am Ende doch nicht stimmt.‘ Die Unruhe wuchs; Zwischenrufe mehrten sich. Am Ende verdarb Ulbricht alles, was noch zu verderben war, indem er eine vorbereitete ‚Resolution‘ zur Abstimmung bringen lassen wollte. Da brach der Sturm los. ‚Aha! – ein Hurra für die SED!‘ – ‚Es lebe der Führer!‘ – ‚Ohne uns!‘ – Ulbricht versuchte, sie zu überschreien. Schließlich gelang es ihm, die Resolution vorzulesen: Die übliche Vertrauenserklärung für Partei und Regierung. Er stellte sie zur Abstimmung. Die Zählung ergab: 188 dafür; dagegen alle übrigen. Ulbricht selber schätzte: ‚Also etwas 500 dagegen.‘ Er erklärte die Versammlung für beendet. Die Arbeiter sagten: ‚Mensch morgen koof ick mir auch ne Zeitung, mal sehen, was die draus machen.‘

Soweit der Augen- und Ohrenzeugenbericht Ewalds. Das ‚Neue Deutschland‘ von heute morgen hat daraus in seinem fünfspaltigen Artikel prompt – nein, ich will nicht sagen ein Siegesbulletin mit Fanfarengeschmetter, aber eine Art Idylle gemacht, so als habe man sich friedlich-schiedlich einmal miteinander ausgesprochen. Könnte ich nicht ohnehin jedem Wort Ewalds vertrauen, so ersähe ich aus der vergleichsweise zurückhaltenden Tonart des Berichts im ‚Neuen Deutschland‘, wie es gestern aber in den Niles-Werken (die offizielle Schreibung lautet jetzt: ‚VEB Großdrehmaschinenbau 7. Oktober‘) wirklich zugegangen ist.“

Anmerkung

Max Fechner (Justizminister im Kabinett der SED) hatte sich im Neuen Deutschland für die Straffreiheit aller friedlich Demonstrierenden mit Berufung auf die Garantie des Streikrechts in der Verfassung der DDR ausgesprochen. Er wurde zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt und kam erst 1956 wieder frei.