„Ich habe doch nichts zu verbergen!“

Nur zu oft hört man diesen Satz, wenn wir auf die Gefahren hinweisen, die durch staatli­cher Internet – Überwachung, Geheimdienst – „Trojaner“- Programme und die Datensam­melwut offizieller und privater Organisationen, die „natürlich nur“ mit den Staatsorganen zusammenarbeiten, „wenn es denn nötig ist“.

Da man selbst ja ein braver Bürger ist, der nicht in Opposition zum bürgerlichen Staat steht, der sich (möglichst) an alle Gesetze und Vorschriften hält, hat man ja auch nichts zu befürchten. Nur Kriminelle und Terroristen lehnen die Internetüberwachung ab; nur Straftä­ter fürchten die in staatlichen Datenbanken gespeicherten persönlichen Daten und die darauf gestützten Aktionen von Geheimdiensten, Polizei, SEK, Staatsanwalt und Gerich­ten.

Dieser leichtfertige, und von staatserhaltenden Parteien eifrig unterstützte Irrglaube ist ge­rade vor wenigen Wochen wieder äußerst brutal und lebensgefährlich und weltweit für alle überdeutlich sichtbar, widerlegt worden.

Als am 15. August 2021 die Taliban, als ultra-reaktionäre, religiöse Bewegung in Kabul die Macht übernahmen, als hektisch die Ret­tungsflüge von NATO und Bundeswehr starteten, war Eingeweihten und allen Afghanen schlagartig klar: Die Taliban hatten fette Beute gemacht.

Aber nicht nur Autos, Panzer, Flugzeuge, Hubschrauber, Gewehre und Pistolen haben den Besitzer gewechselt (siehe Glosse und Grafik auf der nächsten Seite) – es geht um viel mehr:

Darüber war allerdings nichts in der westlichen Qualitätspresse zu lesen, es gab darüber keine Meldung in Tagesschau und heute, es gab keine Sondersendung:

Die afghanische Biometrie-Datenbanken sind den Tali­ban in die Hände gefallen!

Seit 2016 wurde auf Druck der amerikanischen Armee von einem privaten, amerikani­schen EDV-Dienstleister eine afghanische Datenbank mit Namen APPS (Afghan Person­nel and Pay System) aufgebaut.

Zunächst ging es offiziell nur darum, Gehaltsbetrug durch gefälschte Identitäten und soge­nannte erfundene, fake – Soldaten zu verhindern. Mittlerweile sind in diesem Programm Datensätze über alle Soldaten der afghanischen Armee und über alle afghanischen Poli­zisten vorhanden. Allerdings wurden auch die Daten all derjenigen, die sich für einen Job bei Armee oder Polizei beworben haben in diese Datei aufgenommen. Auch wenn sie den Job nicht bekamen, wurden ihre Daten nicht gelöscht.

Jeder Bewerber musste Bewerbungsformulare ausfüllen, die 40 Datenpunkte enthielten.

Dazu gehören persönliche Informationen, wie Name, Geburtsdatum und Geburtsort, sowie eine eindeutige ID – Nummer, die jede Person mit dem biometrischen Profil (Fingerab­druck, Iris – Scan, Gesichts – Scan) des afghanischen Innenministeriums verknüpft.

Das Bewerbungsformular enthält weitere Einzelpunkte, wie militärische Spezialfähigkeiten, und persönlicher Werdegang, aber auch sensible Beziehungsdaten, wie den Namen des Vaters, der Onkel und Großväter, sowie derjenigen Persönlichkeiten, die für den angehen­den Rekruten gebürgt haben. Zusammen mit weiteren Familiendaten können für jeden Bewerber seine „Gemeinschaftsverbindungen“ erstellt werden.

Auf den ersten Blick erstaunliche Details, wie die Frage nach dem „Lieblingsobst“ und dem „Lieblingsgemüse“ mussten angegeben werden.

All das sollte den Amerikanern die Suche nach „Netzwerken“ erleichtern – jetzt ist es eine unschätzbare Fundgrube für die Taliban.

Schon 2016 haben die Taliban bei der Kaperung von Bussen nach Kundus alle 200 Fahr­gäste als Geiseln genommen. Sie benutzten eine Art Fingerabdruckscanner – 12 Fahrgäs­te (Soldaten der afghanischen Armee in Zivil) wurden unter den Fahrgästen gefunden und getötet.

APPS ist das System, von dem für viele Menschen reale Gefahren ausgehen. Aber es ist nicht die größte Datenbank. Die schon rüher installierte Datenbank des afghanischen Innenministeriums „Afghan Automatic Biometric Identfication System“ (AABIS) ist die biometrische Zentraleinrichtung des ganzen Landes. Mit seiner Hilfe wurden nicht fälschbare Personalausweise, Reise­pässe und Führerscheine erstellt und bei Polizei- und Grenz- Kontrollen eingesetzt.

AABIS war notwendig für die Zulassung zur Aufnahmeprüfung an den Hochschulen Afghanistans. Dieses System war dem streng geheimen biometrischen System des amerikanischen Verteidi­gungsministeriums, dem „Automatic Biomeric Identification System“ nachempfunden, das der USA zur Identifizierung von Zielen für Drohnenangriffe dient.

Bis 2012 sollen bereits 80 Prozent der afghanischen Bevölkerung, also etwa 25 Millionen Menschen von diesem System (AABIS) biometrisch erfasst worden sein.

Weitere Datenbanken mit biometrischen Daten existieren z.B. für die Kontrolle von Wahl­berechtigten.

Alles nur halb so schlimm ..

sagen jetzt einige amerikanische Verantwortliche. Die Taliban seien zu dumm, um die teilweise sehr kompliziert vernetzten Datenbanken richtig gegen das Volk nutzen zu können. Heute unter Umstanden noch fehlende Spezialisten werden mit Gewalt oder durch Geld demnächst zur Verfügung stehen.

Für alle, die ihre Angaben über sich und ihre Familien zur Verfügung gestellt haben, deren biometrische Daten erfasst wurden und die sich trotz dieser US-Beschwichtigungsversuche, als Gejagte der Taliban wiederfinden, ist die ganze Situation allerdings keine bittere Ironie, sondern ein das eigene Leben bedrohender echter Verrat.

Die APPS – Datenbank wird heute eine Waffe der (neuen) Taliban – Regierung.

Dies aktuelle, in seinen Auswirkungen grausame Beispiel in Afghanistan zeigt, wie große Datenbanken, ausgestattet mit den neusten Technologien der Fingerabdruck – Erkennung, der Iris – und dem Gesichts – Scan und deren Verknüpfung, ein mächtiges Instrument zur Unterdrückung jeglicher klassenkämpferischen Opposition und ein brutales Instrument zur Sicherung der Herrschaft der Kapitalistenklasse ist. So funktioniert ihre Demokratie. Wir wollen etwas anderes — UNSERE DEMOKRATIE.

Das Beispiel Afghanistan ist ein erneuter Beweis, dass die Haltung: „Ich habe nichts ge­gen EDV – Systeme! Ich habe doch nichts zu verbergen!“ sehr schnell zu einer tödli­chen Bedrohung für viele wird.

Die Behauptung, dass einem die Privatsphäre egal ist, weil man nichts zu verbergen hat, ist nichts anderes als die Behauptung, dass einem die Redefreiheit egal ist, weil man nichts zu sagen hat.“
Edward Snowden

HM

Quelle: https://www.heise.de/hintergrund/Wie-die-afghanische-Biometrie-Datenbank-in-die-Haende-der-Taliban-gelangte-6184168.html?