Durchhalteparolen

Jens Stoltenberg lässt über die „Bild am Sonntag“ vom 19. Juni 20221 die geplante Strategie der Nato im Ukraine-Krieg verlauten. Demnach sei der Preis des Krieges hoch, aber der Preis eines russischen Sieges sei höher. Der Krieg werde daher lang.

Die Kriegsagitation der Nato nimmt damit eine Wende. Hofften Washington, London und Brüssel bislang auf eine rasche Niederlage Russlands, so spricht Stoltenberg heute von einem politisch notwendigen Sieg der Ukraine in einem längeren Krieg.

Auch der britische Premierminister Boris Johnson stimmt seine Landsleute in der Sunday Times vom gleichen Tag auf einen langen Krieg ein: „Ich fürchte, wir müssen uns für einen langen Krieg wappnen, […] Zeit ist ein lebenswichtiger Faktor. Alles hängt davon ab, ob die Ukraine ihre Fähigkeit zur Verteidigung schneller stärkt als Russland seine Fähigkeit zum Angriff zu erneuern vermag.“2

Sinkende Zuversicht

Wenn Stoltenberg und Johnson nunmehr von einem längeren Krieg sprechen und den Sieg der Ukraine unmittelbar von westlichen Waffenlieferungen abhängig machen, so zeugt das von der langsam wachsenden Erkenntnis, dass sich der zuvor erhoffte schnelle Sieg nicht verwirklichen lässt, trotz politischer und wirtschaftlicher Isolation Russlands seitens der Nato-Staaten.

Wie nötig dabei gerade der Ersatz von Waffen ist, war jüngst aus dem Munde des ukrainischen Brigadegenerals Karpenko zu hören, der die Materialverluste der ukrainischen Armee auf dramatische 50 Prozent schätzt3. Allein 700 Artilleriesysteme seien verloren – die von Kriegsministerin Lambrecht versprochenen sieben Panzerhaubitzen PzH 2000 können also gerade mal ein Prozent dieser substanziellen Verluste wettmachen.

Schwindende Einigkeit

Stoltenberg hebt hervor, dass es beim Gipfel „erstmal darum geht, der Ukraine bei ihrem Kampf […] gegen Putins brutale Invasion zu helfen“. Dazu soll ein „umfassendes Hilfspaket“ verabschiedet werden, alles möglichst im Beisein des ukrainischen Präsidenten Selenskyj, den Stoltenberg eingeladen hat.

Es ist wenig wahrscheinlich, dass ein derartig großer Auftrieb nur um eines Hilfspaketes willen veranstaltet wird, gerade die gewünschte Anwesenheit Selenskyjs spricht dafür, dass Politik gemacht werden soll.

So erhärtet sich der Eindruck, dass es innerhalb des Militärbündnisses keineswegs die gerne nach außen demonstrierte Einmütigkeit über die politischen Ziele der Nato im Ukraine-Krieg herrscht.

Wenn schon US-Präsident Joe Biden Anfang Juni dem laut geäußerten Gedanken des außenpolitischen Urgesteins Kissingers, die Ukraine solle auf ein Teil ihres Territoriums verzichten4, mit aller Schärfe entgegentreten musste5, zeugt das davon, dass es selbst in Washington Opposition gegen den Kriegskurs Bidens gibt. Auch werden nicht alle Nato-Staaten bereit sein, ihre eigene Wirtschaft den weltpolitischen Ambitionen der USA zu opfern.

So erklärt sich denn der Wunsch der Nato-Führung, den Krieg länger heiß bleiben zu lassen. Ein allzu rasches Ende könnte dazu führen, dass sich Mitgliedsstaaten schnell des bewährten Energie- und Rohstofflieferanten Russland erinnern könnten und – um ein zweites Versailles zu vermeiden – auf eine rasche Reintegration Russlands in die Weltwirtschaft drängen. Der mühsame errichtete Schein der Einmütigkeit unter der Führung der USA könnte so nach dem letzten Schuss schnell bröckeln.

Opfer gefordert

Jeder Krieg wird wirtschaftlich geführt, also appelliert Stoltenberg vor dem Hintergrund eines längeren Krieges nicht nur an die Regierungen, sondern an die Bevölkerungen der Nato-Staaten Opfer zu bringen. Für die Bevölkerungen heißt das, „steigende Energie und Lebensmittelpreise“ hinzunehmen. Will sagen: Wer im kommenden Winter friert, soll nicht auch noch satt werden.

Von Opfern seitens der Wirtschaft spricht Stoltenberg jedoch nicht! Wie auch, ist sie es doch, die bei einem längeren Krieg länger Extraprofite einstreichen wird. Oder wohin sonst fließen all die Milliarden aus den vermehrten Staatsausgaben? Wohin sonst fließen die Extraprofite aus den Spekulationsgewinnen an den Rohstoffbörsen und Zapfsäulen?

Und auch die Nato will ihre Pläne für eine politische Ordnung Europas nach dem Ukraine-Krieg nicht einem Frieden opfern, bei dem sie nicht die Feder führt und ihre Ambitionen verwirklicht sieht. Für einen solchen Frieden opfert die Nato dann allerdings mit Freude jedes ukrainische und russische Leben.

1 https://www.bild.de/politik/ausland/politik-ausland/nato-chef-jens-stoltenberg-der-krieg-koennte-jahre-dauern-80442594.bild.html

2 https://www.thetimes.co.uk/article/boris-johnson-we-will-never-be-secure-if-we-turn-our-backs-on-valiant-ukraine-education-commission-9sd5z2bxq

3 https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/wolodymyr-karpenko-ranghoher-general-beziffert-verluste-haelfte-der-ausruestung-verloren_id_107973597.html

4 https://www.washingtonpost.com/world/2022/05/24/henry-kissinger-ukraine-russia-territory-davos/

5 https://www.n-tv.de/politik/Gilt-Nichts-ueber-die-Ukraine-ohne-die-Ukraine-noch-article23378095.html